Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen verurteilt Sozialhilfeträger, um die Bestellung eines geeigneten Vertreters zu ersuchen

Betreuungsgericht muss bei Erforderlichkeit gem. § 15 SGB X Vertreter bestellen, wenn wegen freien Willens keine Betreuerbestellung

Das LSG NRW hat einen Weg aufgezeigt, wie die Sozialleistungsträger sowohl die Justiz von den Kosten der Betreuerbestellung entlasten wie auch ihre Verwaltungsverfahren zum Ab­schluss bringen könnten, wenn psychisch beeinträchtigte Leistungsberechtigte ihre Mitwir­kungs­pflichten nicht erfüllen, gegen ihren angeblich freien Willen aber auch kein Betreuer be­stellt wird.

Mit Urteil vom 16. Oktober 2017 – L 20 SO 384/15 wurde ein Leis­tungsträger dazu ver­pflichtet, gem. § 15 SGB X beim Betreuungsgericht um die Be­stel­lung eines geeigneten Ver­tre­ters zu er­su­chen, damit einem psychisch beeinträch­tigten An­tragsteller eine Leistung nicht ver­weigert wird, der seine Mitwirkungspflichten offen­sichtlich nicht erfüllen kann.

Ein pflegebedürftiger Betroffener zeigte ausgeprägte querulatorische Tendenzen und führ­te seit 1999 allein vor dem LSG Nordrhein-Westfalen 649 Verfahren. Später stellten Gut­achter eine dauerhafte paranoide Persönlichkeitsstörung mit einer nicht mehr the­ra­­peu­tisch zugänglichen Chronifizierung fest.

Der Kläger beantragte beim Sozialhilfeträger Hilfe zur Pflege, verweigerte aber mit nicht nachvollziehbaren Ar­gu­­men­ten die Offen­le­gung seiner Einkommens- und Ver­mö­gens­ver­hält­nisse. Der Hilfeträger versagte ihm schließlich gem. § 65 SGB I die begehr­ten Leis­tun­gen wegen fehlender Mitwirkung.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts war der Kläger während des Verwaltungs- bzw. Vorverfahrens und auch weiterhin wegen seiner pathologischen Persönlichkeitsstruktur nicht in der Lage, für sich selbst im Verwaltungsverfahren tätig zu werden. Ihm fehle es an der erforderlichen Reflexionsfähigkeit, um den Zusammenhang zwischen fortge­setz­ter Weigerung und Leistungsversagung zu über­blicken und die Rechtsfolgen kri­tisch abzu­wä­gen. Er war nicht in der Lage, den „Inhalt be­hördlicher Schreiben zu ver­stehen, darauf auf dem Boden eines sicheren Rea­li­täts­bezuges adäquat zu reagie­ren“ und könne auch gericht­lichen Hinweisen in keiner Weise sachgeleitet nachgehen.

Die Beklagte war daher nach dem Berufungsurteil gehalten, beim Betreuungsgericht um die Bestel­lung eines geeigneten Vertreters von Amts wegen gem. § 15 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Satz 1 SGB X für den Kläger nach­zusuchen. Dieser „geeignete Vertreter“ erhält mit seiner Be­stellung die Rechts­stellung eines gesetzlichen Vertreters. Er wird wie ein Betreuer vergütet, allerdings muss die ersuchende Behörde dem Landesjustizfiskus die aufgewen­de­te Vergütung erstatten.

Während die Bestellung eines rechtlichen Betreuers gegen den richterlich festge­stell­ten frei­­en Willen gem. § 1896 Abs 1a BGB unzulässig ist, enthalte § 15 SGB X eine solche Ein­schrän­kung nicht, stellte das Landessozialgericht fest. Der Gesetz­geber des SGB X habe al­lein auf das Vorliegen einer psychischen Krank­­heit oder einer Behinderung ab­stellen wol­l­en. Käme es auf den Willen des Be­troffenen an, würde dieser faktisch von Sozial­leis­tun­gen ausge­schlossen: wenn ohne die Ver­tretung seiner Interessen die Durch­führung ei­n­es Sozialver­waltungsverfahrens unmöglich würde, verletze dies den Rechtstaats­grund­satz, so das LSG.

Ein geeigneter Vertreter i.S.v. § 15 SGB X darf nicht aufgezwungen werden, wenn der Betroffene noch fähig ist, im Verwaltungsverfahren selbst einen Anwalt wirksam zu man­­da­­tieren. Nach Gutachterfeststellung war im Betroffene im entschiedenen Fall je­doch wegen seiner Handlungsunfähigkeit im Verwaltungsverfahren auch als geschäfts­unfähig im Hinblick auf die Man­da­tierung eines An­walts anzusehen und hätte sich selbst keinen Anwalt beschaffen können.

Der Bestellung eines Vertreters im Verwaltungsverfahren gem. § 15 Abs 1 Nr 4 SGB X (auch im allgemeinen Verwaltungsverfahren gem. § 16 VwVfG/LVerwG oder auf Ersu­chen der Finanzbehörde gem. § 81 Abgabenordnung) als mögliche „andere Hilfe“ solle in der Praxis gegenüber einer Betreuerbestellung stärkere Geltung verschafft werden. Dafür sprechen sich Hans-Dieter Nolting, Karsten Zich, Thorsten Tisch und Grit Braeseke vom IGES Institut GmbH in der rechtstatsächlichen Untersuchung im Auftrag des BMJV „Umsetzung des Erforderlich­keits­grund­satzes in der betreuungsrechtlichen Praxis im Hinblick auf vorgelagerte ‚andere Hilfen‘ “ aus.