Der Staat hat die Selbstbestimmung und den Schutz betreuungsbedürftiger Menschen zu gewährleisten

Eine Orientierung der Betreuung nur an den Wünschen der Betroffenen ist verfassungswidrig

Art. 12 der UN-Behindertenrechtskonvention fordert die Abschaffung des Systems der ersetzenden Entscheidungsfindung und Ersetzung durch „Unterstützte Entscheidungsfindung“, um die volle rechtliche Handlungsfähigkeit für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wiederherzustellen.

Prof. Dr. Tobias Fröschle zieht daraus in seinem Beitrag „Qualitätsanforderungen an die rechtliche Betreuung“ in der Zeitschrift für Rechtspolitik 4/2018, S. 110 den Schluss, dass für die Bestimmung des Wohls des Betreuten objektive Interessen keine Rolle mehr spielen dürften.

Sein Vorschlag für eine Neuformulierung des § 1901 BGB enthält daher zunächst eine Konkretisierung des Erforderlichkeitsprinzips, indem das stellvertretende Handeln zur Gewährleistung des Wohls zum letzten Mittel erklärt wird. Sodann setzt Fröschle das Wohl der Betroffenen mit deren Wünschen gleich („Das Wohl des Betreuten besteht darin, sein Leben im Rahmen des Möglichen nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.“)

Die Folge einer solchen gesetzlichen Regelung wäre zunächst, dass der Einwilligungsvorbehalt gem. § 1903 BGB und die geschlossene Unterbringung gem. § 1906 BGB abgeschafft werden müssten. Betreuer dürften nämlich dann weder die Einwilligung zu einem selbstschädigenden Rechtsgeschäft verweigern noch die Genehmigung einer Unterbringung beantragen, wenn diese Handlungen nicht gerade dem Wunsch des Betroffenen entsprechen.

Das Grundgesetz hat Vorrang vor der UNO-Behindertenrechtskonvention

Die Befürworter der „Unterstützten Entscheidungsfindung“ unterliegen dem Irrtum, die UN-Behindertenrechtskonvention habe den gleiche Rang wie die Verfassung und müsse zur Abschaffung des in § 1903 Abs 3 BGB geregelten Vorrangs des objektiven Wohls vor den Wünschen („Der Betreuer hat Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft“) führen.

Aber genauso wenig, wie das in der UN-Menschenrechtskonvention enthaltene Streikrecht den Grundsätzen des Berufsbeamtentums in Art. 33 Grundgesetz vorgeht (BVerfG v. 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u.a.), geht die UN-Behindertenrechtskonvention den Wertungen des Grundgesetzes vor. Sie ist als völkerrechtliche Norm vielmehr nur ein einfaches Gesetz und damit keine höherrangige Rechtsnorm, an die das Betreuungsrecht angepasst werden müsste. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist lediglich eine Hilfe zur Auslegung der Grundrechte in der Verfassung sowie des Gesetzesrechts (BVerfG vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15). Art. 12 UNO-BRK beeinflusst daher die Interpretation des Erforderlichkeitsprinzips im Betreuungsrecht.

Der Betreuungsrechtsgesetzgeber und die Gerichte sind jedoch an das Grundgesetz und seinen obersten Wert, den Schutz der Menschenwürde, gebunden.

Die Menschenwürdegewährleistung hat zwei Dimensionen, das Recht auf Selbstbestimmung und die Pflicht des Staates, Vorkehrungen zum Schutz der Menschen zu treffen, die zu selbstbestimmten Entscheidungen nicht in der Lage sind. Das Bundesverfassungsgericht hat diese beiden Dimensionen in Einklang zu bringen. Zuletzt im Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 (mit dem die Zwangsbehandlung außerhalb geschlossener Unterbringung für zulässig erklärt wurde) räumte es der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zugunsten der Betroffenen, die wegen einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung hinsichtlich der Notwendigkeit ärztlicher Maßnahmen nicht einwilligungsfähig sind, Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht ein. Das Bundesverfassungsgericht hielt es nicht für erforderlich zu begründen, dass sein Beschluss mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar sei.

Der UN-Fachausschuss ignoriert jedoch die Schutzdimension der Grundrechte im deutschen Grundgesetz und betont ausschließlich das Selbstbestimmungsrecht, ohne dabei die Konsequenzen für die Betroffenen zu erwägen. An die Stelle von geschlossener Unterbringung und Zwangsbehandlung soll z.B. eine Art Vorsorgeverfügung treten (Allgemeine Bemerkung Nr. 1 des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2014, Absätze 17 und 40), in der den Betroffenen für eine Krisensituation offenbar eingeräumt werden soll, eine Unterbringung und Zwangsbehandlung rechtsverbindlich auszuschließen.

Es ist jedoch offensichtlich, dass das „Recht auf Verwahrlosung“ und das „Recht auf Krankheit“ (BVerfG v. 23.03.2011 – 2 BvR 882/09) nicht schrankenlos gewährleistet sein kann, weil die Menschenwürdegewährleistung entgegen dem Wunsch nicht entscheidungsfähiger Menschen mit Behinderung irgendwann einen staatlichen Schutzeingriff und rechtlich bedeutsame Betreuerhandlungen gebietet.

Die absolute Vorrangstellung des Selbstbestimmungsrechts behinderter Menschen in der Konzeption der unterstützten Entscheidungsfindung würde weiterhin auch zur Verletzung der Rechte Dritter führen. Das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen endet gem. Art 2 Abs 1 GG dort, wo durch die Auswirkungen seiner Geltendmachung Rechtsgüter Dritter, z.B. der Nachbarn, oder der Allgemeinheit beeinträchtigt werden.

Der Bundesgerichtshof hat am 27. Januar 2016 – XII ZB 519/15 entschieden, dass die Gefahr des Entstehens von Verbindlichkeiten (die der Betroffene aktuell nicht erfüllen kann und die eine Verschuldung bewirken) einen Betreuungsbedarf begründen kann und die Annahme einer die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts erfordernden erheblichen Gefahr für sein Vermögen rechtfertigten. Die rechtliche Handlungsfähigkeit psychisch beeinträchtigter Menschen in Vermögensangelegenheiten muss auch da eine Grenze finden, wo ihre Inanspruchnahme zu Mittellosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit führen würde.

Der Betreuungsgesetzgeber ist daher nicht gezwungen, in § 1903 Abs 3 BGB nach dem Vorschlag von Fröschle das objektive Wohl der Betroffenen zugunsten deren Wünschen vollständig entfallen zu lassen. Vielmehr sind den rechtlichen Betreuern praktikable Kriterien für die Abwägung von Wünschen und Wohl vorzugeben.